Überraschende Begegnungen in der mexikanischen Wüste – Ein neuer Fundort von Echinocereus longisetus Reto F. Dicht Als ich 2006 zusammen mit Jonas Lüthy (dem Namenspatron der Mammillaria luethyi) Nordcoahuila durchkämmte, ahnten wir nicht, was uns erwarten würde, denn das Gebiet zwischen La Babia und La Linda am Rio Grande war botanisch kaum dokumentiert. Wir wussten, dass John Bigelow Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegend von Melchor Muzqúiz botanisiert hatte (DICHT 2007) und kannten die Strecke bis Boquillas del Carmen, aus der wir – Jonas‘ Bruder Adrian und ich – Coryphantha ramillosa subsp. santarosa Dicht & A. Lüthy beschrieben hatten. Dort findet man auch Echinocereus ctenoides oder auch Escobaria hesteri subsp. grata (M. Kaplan et al.) Dicht & J. Lüthy. Die Gegend östlich wird landschaftlich geprägt durch einen Vulkankegel, den El Conejo, an dessen Fuß schöne Exemplare von Echinocereus blumii (Abb. 1) wachsen, zusammen mit E. enneacanthus subsp. intermedius (Abb. 2). Von hier führt die gut unterhaltene Naturstraße nordwärts bis zur Fluoritmine Aguachile. Lässt man den Blick nach Osten schweifen, so erblickt man weiße Hügel, für Kakteenforscher immer interessant, da dort eine spärlichere Flora ein für Kakteen optimales Habitat bietet. Das Auto mussten wir bald wieder stehen lassen, denn eine verriegelte Schranke, offenbar zu einem Rancho gehörend, machte eine Weiterfahrt unmöglich. Wir campierten, genossen das rasch verebbende Heulen der Kojoten und bewunderten den Sternenhimmel auf 1.200 m Höhe in glasklarer Luft und ohne irritierende Fremdlichter, um uns am nächsten Morgen zu Fuß Richtung weiße Hügel zu begeben. Auf dem gut zweistündigen Fußmarsch fanden wir verschiedene Altersformen von Coryphantha sulcata (Engelmann) Br. & R., der Typusart der Gattung Coryphantha, die vor allem aus Texas gut dokumentiert ist, die wir aber südwärts bis Monclova kennen (DICHT & A. LÜTHY 1998). Die Pflanzen in dieser Gegend bilden den missing link im Verbreitungsgebiet von C. sulcata (Abb. 3). Am Fuß der weißen Hügel war meine Überraschung groß, als ich auf ausladende Gruppen von Echinocereus longisetus subsp. longisetus (Abb. 4) stieß, sogar in Blüte. Uns schienen die gefundenen Pflanzen bezüglich Bedornung (kräftigere Dornen, teils rötlich) und Gesamthabitus von denen uns bekannter Fundorte leicht zu differieren. Um dies abzuklären, da wir ja nicht Echinocereenspezialisten sind, begann ich einen Kopf als Herbarbeleg (Herbarium G. B. Hinton 28424, Abb. 20) abzuschneiden, hielt aber unverzüglich inne, als wir in der sonst absolut stillen Prärie ganz unverhofft rasch näher kommende Galopp-Geräusche hörten. Vier Reiter in voller Gaucho-Montur näherten sich sehr schnell, verlangsamten allmählich den Schritt und formatierten sich: zwei hinten, zwei vorne, einer, offenbar der Anführer, noch etwas nach vorne versetzt. Ein Bild wie in einem klassischen Westernfilm, fehlte nur noch die Musik von Ennio Morricone … Der Anführer sprach uns an, erst schroff, dann etwas freundlicher. Er wollte wissen, was wir hier mitten in der Wüste wollten und wo unsere Pferde seien (Abb. 5). Jonas, mit seinem ausgezeichneten, mexikanisch geprägten Spanisch, erklärte, das sei eine neue Form des sanften Tourismus, „zu Fuß das Land entdecken“. Wir zeigten dem Ranchero Satellitenbilder seiner Ranch und beteuerten, wir seien weder Gringos, noch Tourismusförderer oder Geologen, sondern Botaniker. Daraufhin fragte er uns den Namen jeder gerade sichtbaren Pflanze ab, eine Aufgabe, die Jonas, der Berufsbotaniker mit monatelanger mexikanischer Felderfahrung, locker löste. Als er unsere Pässe sah, schien er beruhigt und meinte zu unserem Erstaunen, die Schweiz sei doch irgendwo zwischen Italien und Frankreich und dort hätten die Kühe doch so große Euter, er habe das in einem Katalog gesehen … Nach kurzer Beratung in Sichtentfernung kehrten drei der vier nochmals zu uns zurück, entschuldigten sich für ihr schroffes Auftreten und boten uns Wasser und Benzin vom ca. 20 km entfernten Rancho an. Den Vierten hatten sie losgeschickt, um den Standort unseres Autos zu überprüfen. Sie konnten nicht glauben, dass da jemand freiwillig so weit durch die Wüste laufen konnte. Nach dem Abzug der Gauchos kehrte die absolute Ruhe der Prärie wieder zurück und wir konnten uns den Echinocereus longisetus-Gruppen widmen (Abb. 6,8,9,11), die zu Dutzenden über den ganzen Hügel verstreut zwischen Agaven, Fouquierien und Yuccas wie weiße Inseln aufleuchteten (Abb. 7). Ein völlig intaktes und ungefährdetes Habitat, für einen Kakteenfreund ein wahres Paradies, zwischen diesen prächtigen Gruppen umherzuwandern. Wir nahmen noch eine Blüte für den Herbarbeleg mit (Abb. 10), mussten jedoch später erkennen, dass diese Longiseti zu wenige spezifische Charakteristiken aufwiesen, um eine Subspezies abzutrennen. Hinter dem Longisetus-Hügel trafen wir kräftige Exemplare von E. ctenoides an mit prächtigem Flor (Abb. 14, 15, 16) sowie E. dasyacanthus (Abb. 12, 13). Die vier Gauchos am Longisetus-Hügel waren für fünf Tage die letzten Menschen, die uns begegneten. Die Mine Aguachile war wegen der Osterfeiertage geschlossen und der Weg von der Mine bis nach La Linda am Rio Grande war so ruppig, dass wir uns, 320 km von der nächsten Werkstatt entfernt, selbst im Schritttempo einen Plattfuß zuzogen. Wir hatten nur ein Ersatzrad dabei, das schnell angebracht war. Doch stellte sich die Frage: Entweder 40 km zurück zur Mine und dort vier Tage auf die Rückkehr der Minenarbeiter warten, oder doch 35 km weiter nach La Linda. Auf dem Satellitenbild sah La Linda sehr ordentlich aus, mit gut mehreren Dutzend Häusern, allerdings fand sich im Internet kaum ein Wort über diesen Ort, außer, dass die USA die dortige Gerstacker-Brücke über den Rio Grande 1997 zubetoniert hatten (Abb. 19), über die zuvor täglich Fluoritlaster nach Marathon (Texas) gefahren waren. La Linda lebte von einer 1968 gebauten Fluoritfabrik, die den Fluorit mit Wasser aus dem Rio Grande reinigte. Das Abwasser ließ man zurück in den Rio Grande, was große Schäden für die texanische Landwirtschaft flussabwärts zur Folge hatte. Bei Einbruch der Dunkelheit fuhren wir in La Linda ein. Eine Geisterstadt! Kein Mensch zu sehen, kein Licht, alle Häuser am Zerfallen, laut klappernde Dächer im Wind … Wir richteten schweigend unser Camp neben dem zerfallenen Zollhaus vor der zubetonierten Brücke ein. Wie weiter? Ein Hoffnungsschimmer: Rückleuchten eines Autos im Geisterstädtchen. Am nächsten Morgen fuhren wir gleich an die Stelle, wo wir die Rückleuchten gesehen hatten (Abb. 17), und trafen tatsächlich auf einen 73-jährigen Mann, der zusammen mit seiner Frau die Aufgabe hatte, zu den ehemaligen Fabrikgebäuden zu schauen (Abb. 21). Die beiden waren glücklich, endlich mal Gäste in diesem vergessenen Kaff zu haben, und Poncho flickte sogar unseren Pneu (Abb. 18). Allerdings hatte er keine Luftpumpe, sondern füllte den Pneu mit Butangas, das er auf seiner Camioneta mitführte. Schmunzelnd sah er in unsere fragenden Gesichter und meinte: Auf Landstraßen geht das problemlos, aber auf Asphalt dürft ihr nicht schneller als 50 km/h fahren, sonst ist es eure letzte Fahrt. Wir kamen heil bis nach Ciudad Acuña, wo wir als Erstes das Butangas durch Luft ersetzen ließen. Quellen: DICHT, R. (2007): Auf den Spuren von Dr. John M. Bigelow in Nord-Coahuila. – Kakt.and.Sukk. 58 (11): 281–285. DICHT, R. & LÜTHY, A. (1998): Coryphantha sulcata (Engelmann) Britton & Rose in Mexiko: Drei Bödekersche Arten als Synonyme identifiziert. – Kakt.and.Sukk. 49 (9): 196. DICHT, R. & LÜTHY, A. (2003): Coryphantha – Kakteen aus Nordamerika. – Eugen Ulmer. DICHT, R. & LÜTHY, A. (2000): Coryphantha ramillosa ssp. santarosa Dicht & A. Lüthy subsp. Nov. – Kakt.and.Sukk. 51 (6): 141. LÜTHY J. & DICHT R. (2007): Outstanding but overlooked: E. hesteri ssp. grata (M. Kaplan, L. Kunte, J. Šnicer) J. Lüthy and Dicht from Coahuila, Mexico. – Cactus World 21 (3): 167.